Dufay Ensemble Nürnberg – Texte
Peter Stimpel: zu Morton Feldmans "Rothko Chapel" Peter Stimpel: Atemzüge eines Wintertages - zu Morton Feldmans "Three Voices" Christine Böhm: Karl Amadeus Hartmann "Friede Anno '48" Peter Stimpel: Hartmanns Kantate: politisch-theologische Reflexionen Christine Böhm: Sieben Madrigale aus Orlando di Lassos "Lagrime di San Pietro" Siegfried Schödel: Zwölf Anmerkungen zu einem Konzert in einem fast aufgegebenen Raum |
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Zu Morton Feldmans "Rothko Chapel"Der Titel "Rothko Chapel" gibt den Anlass an: Das Werk wurde uraufgeführt am 9. April 1972 anlässlich der Einweihung der Rothko Chapel in Houston / Texas mit vorgeschriebener Dauer von 30 Minuten. Als Architekt dieser Kapelle ist neben anderen Mark Rothko zu nennen, der den Bau (zunächst 1964-67) ausschließlich seinen Bildern (14 + 3 Stück), verstanden als Höhepunkt seines Schaffens, anpasste. Dies ermöglichte die kunstbegeisterte Familie De Menil, die gut bezahlte und Rothko komplette Freiheit gab. So glaubte er, "Ost und West in einer achteckigen Kapelle zusammenzuführen". Und: "Es geht nichts über ein gutes Bild über das Nichts. Man hat nichts – nur Aussage." Ab 1967 schufen zwei Architekten aus Houston das heutige "Gebäude, dessen blanke und geradlinige Fassade die Klarheit von Rothkos Bildern wiedergibt" (J. Breslin), den Bildern aber im Innern [3 mal 1,5 * 4,5 Meter ! Hochformat; 11 mal 3,3 * 4,6 Meter plus 3 Bilder als mögliche Varianten] eine gebärmutterähnliche Hülle schenkt, die dem Betrachter "www.dufay-ensemble.deFrieden", spirituelle Erfahrung vermitteln, aber auch Erschrecken vor der "schwarzen und pflaumenhaften Leere [gleichsam seriell mit feinen Unterschieden zum Vorgängerbild gemalt], sowie Gleichgültigkeit, Schlaf- und Ruhebedürfnis vermitteln kann. Ein Grabmal. Die Bilder lassen sich nicht beherrschen: ihr Maß lotet aus, wann Wirklichkeit unerträglich wird. Rothko sieht sich nicht als religiöser Mensch. Betrachter aber, "die vor meinen Bildern stehen und weinen, spüren etwas von der gleichen religiösen Erfahrung, … die ich beim Malen hatte". Als "letzter Rabbiner der westlichen Kunst" (J. Breslin), der als Gipfel seiner Kunst eine römisch-katholische Kapelle in Texas ausgestaltet, war von Obsessionen, körperlichem Verfall, stetem Sich-Neu-Erschaffen bis zum Schluß geprägt. Fast rituell opferte er sich in dem New Yorker Studio, in dem die 17 Bilder entstanden, dem Geheimnis seines Lebens durch Freitod. Die Rothko Chapel in Houston / Texas hat er nie gesehen. Feldman sagte zu seiner Komposition: "Meine Auswahl der Instrumente im Hinblick auf Besetzungsumfang, Klangbalance und Klangfarbe wurde in hohem Maß bestimmt durch die Kapelle, aber auch durch die Bilder. Rothkos Gemälde füllen die Leinwände bis ganz in die Ecken aus, und ich wünschte die gleiche Wirkung auch für die Musik - sie sollte sich über den ganzen Raum verbreiten und nicht aus Distanz gehört werden." (zitiert nach http://www.cnvill.net/mfessl.htm) 169 mal fordert die Thora auf, sich zu erinnern. Zachor! Erinnere Dich! So schafft das Stück einen imaginären Klanggedächtnisraum (wie auch für Igor Strawinski, russischer, nicht-jüdischer Herkunft, gestorben am 6. April 1971, repräsentiert im Sopran-Solo). Am Ende seines Stückes zitiert Feldman sich selbst, ein melodisches Stück hebräische Tradition verarbeitend. Dieser Teil verändert "den Charakter des Stillebens" des gesamten Stückes nicht.
In der Stille fällt alles zusammen und bricht alles hervor. Heute, 6. April 2014, Aufführungsort: Neues Museum Nürnberg, Foyer, auf dem Boden des ehemaligen Klarissenklosters. Wer den Foyerraum klar und wach wahrnimmt, ahnt die fröhliche Arkandisziplin der letzten katholischen, umfassend gebildeten Äbtissin des Klosters: CARITAS Pirckheimer († 19. August 1532). Peter Stimpel | |||||||||||||||||||||||||||||||||
Atemzüge eines WintertagesMehr atmen sollen seine Interpreten als zählen, aus Respekt vor den Noten, die Morton Feldman nicht als seine Schöpfung ansah, sondern als seine Entdeckung: Konstanten beim Versuch, eine akustische Realität zu bannen. "Who'd have thought, that snow falls" ("Wer hätte gedacht, dass Schnee fällt"): Wirklichkeit und Möglichkeit schieben sich sprachlich ineinander in dieser Gedichtzeile von Frank O'Hara (1926 - 1966), dem Chronisten einer ganzen Künstlergeneration im New York der fünfziger Jahre. Urplötzlich und doch lange klanglich vorbereitet taucht diese Zeile in "Three Voices" auf, verebbt, erscheint wieder, verebbt und beendet, fast unvermutet, das Stück, das eine alltägliche Erfahrung von Interpreten und Zuhörern mikroskopisch genau aufnimmt, und im gleichmäßigen Fall des Schnees dessen klangliche Qualität immer wieder auf's Neue umkreist, um seine Wirklichkeit zu bannen. Klang, Verse, Natur gehen ineinander über: Schneeflocke an Schneeflocke fällt in immer neuen, geometrisch exakt zu benennenden Mustern, verschieden und doch einander verwandt. Diese Wendungen selber sind bildhaft zu nehmen, als Bilder von Klangformationen, in denen - um es in einer Wendung des Nikolaus von Kues zu sagen, dessen 600. Geburtstag wir jetzt begehen - eine "coincidentia oppositorum" sich ereignet, ein Zusammentreffen von Progression und Regression, dem Dauern als weiträumige Verteilung gleicher Elemente, allerdings wechselnd als Maß stehender Klänge, änderungen der Klangfarbe bei ganz kurzen Pausen - dies alles schafft den Eindruck von schwebenden, ungezwungenen Klängen. Morton Feldman studierte Malerei, als er durch eine Begegnung mit John Cage (1912 - 1992) im Jahre 1949 Musiker wurde; bald darauf lernt er den Maler Philip Guston (1913 - 1980) kennen, dessen Bilder ihn solange faszinierten, als sie Fragen stellten. Dann zerbrach die Freundschaft. Gleichwohl sprach er das Totengebet bei dessen Beerdigung. Auch der Dichter Frank O'Hara war schon tot, als die Spätphase des künstlerischen Schaffens von Morton Feldman anbrach. Zwei der drei Sopranstimmen in "Three Voices" repräsentieren Frank O'Hara und Philip Guston, die wiederum das übergreifende, umfassende Künstlertum Feldmans (die dritte Stimme), auch durch ihre enge Freundschaft, umreißen. Das Stück stellt also biographisch gesehen den Dialog des noch Lebenden mit den toten Freunden dar, nicht aber als klagenden Abgesang, sondern als das schöpferische Umschreiten eines gemeinsamen künstlerischen Raumes in seiner prinzipiellen Unabgeschlossenheit nach vorne. Sowohl biographisch wie auch kompositorisch erfolgt ein äußerst sorgfältiger Dialog von Damals und Jetzt, von Aufnahme gemeinsamer künstlerischer überzeugung und behutsamer neuer Weiterarbeit, Innehalten im gemeinsamen, immer neu vertauschten "Dreiklang", dem intensiven Nachspüren des Wesentlichen in dieser Klangformation bei behutsamer Änderung, im Klangspektrum bleibend und es doch neu eröffnend - so wird aus der Stimme der Toten mit der des Lebenden, nahe und doch distanziert, etwas Lebendes in ungeahnter Möglichkeit - schwebend nach vorne beständig. Eines der letzten Stücke Morton Feldmans galt Samuel Beckett, den er 1977 traf. Beckett sagt dabei, es gebe für ihn nur ein Thema in seinem Leben. Er schreibt auf Feldmans Notenpapier: "Hin und her im Schatten, vom äußeren Schatten in den inneren Schatten. Hin und her zwischen unerreichbarem Ich und unerrreichbarem Nicht-Ich." Peter Stimpel Atemzüge eines Sommertages (Fragment)… Ein geräuschloser Strom glanzlosen Blütenschnees schwebte, von einer abgeblühten Baumgruppe kommend, durch den Sonnenschein; und der Atem, der ihn trug, war so sanft, daß sich kein Blatt regte. Kein Schatten fiel davon auf das Grün des Rasens, aber dieses schien sich von innen zu verdunkeln wie ein Auge. Die zärtlich und verschwenderisch vom jungen Sommer belaubten Bäume und Sträucher, die beiseite standen oder den Hintergrund bildeten, machten den Eindruck von fassungslosen Zuschauern, die, in ihrer fröhlichen Tracht überrascht und gebannt, an diesem Begräbniszug und Naturfest teilnahmen. Frühling und Herbst, Sprache und Schweigen der Natur, Lebens- und Todeszauber mischten sich in dem Bild … Robert Musil "Der Mann ohne Eigenschaften" | |||||||||||||||||||||||||||||||||
Karl Amadeus Hartmann: "Friede Anno '48"In einem Briefwechsel aus dem Jahre 1960 mit einem amerikanischen Verleger bezeichnet Karl Amadeus Hartmann seine im Jahre 1936/37 entstandene Chorkantate mit dem Titel "Anno 48 - Friede", möglicherweise auf die Betitelung des deutschen Barockdichters Andreas Gryphius bezugnehmend. Tatsächlich birgt diese Wortstellung sehr viel mehr vom emotionalen Gehalt des Werkes, als die eher nüchterne Aussage des Titels "Friede Anno 48", handelt es sich doch um einen Frieden angesichts des Schreckens, um die noch kaum verarbeiteten Grauen des dreißigjährigen Krieges im Jahre des Westfälischen Friedens. Hartmann schrieb bereits im Jahre 1935 eine Kammeroper nach Grimmelhausens Roman "Die Abenteuer des Simplicius Simplicissimus". Über seine Beweggründe dazu erwähnt er in seinem gleichnamigen Essay: "Die Zustandsschilderungen aus dem Dreißigjährigen Krieg schlugen mich seltsam in Bann. Wie gegenwärtig kam mir das vor: «Die Zeiten seyn so wunderlich, daß niemand wissen kann, ob du ohn Verlust deynes Lebens wieder herauskommest … »; da war der einzelne hilflos der Verheerung und Verwilderung einer Epoche ausgeliefert, in der unser Volk schon einmal nahe daran gewesen ist, seinen seelischen Kern zu verlieren." In dem Text von Andreas Gryphius sah Hartmann offenbar vorausahnend das Schreckens-Szenario, das aus der faschistischen Gewaltherrschaft hervorgehen würde, und er, der von sich selbst sagte, er habe bereits im Jahre 1933 bei der Machtübernahme für sich die Notwendigkeit erkannt ein Bekenntnis für die Freiheit und gegen die Vernichtung abzulegen, stellte eine geschichtliche Analogie zwischen den Leiden auf dem Boden der geistigen Verödung und dem Zerwürfnis der damaligen deutschen Staaten und dem seiner Zeit her, nicht nur rein inhaltlich, sondern auch mit musikalischen Mitteln: Wenn Hartmann gegen Ende des Stückes den Choral "Nun danket alle Gott" zitiert, zunächst nur erahnbar an der Rhythmik und dem melodischen Gestus des Chorsopranes, vermerkt er dazu in die Partitur: "Die verwendete Choralmelodie «Nun danket alle Gott» von Johann Crüger stammt aus dem Jahre 1648". Die Lyrik, sowie die relative Nüchternheit und - wo beabsichtigt - Klanghärte des Klaviertones ausnutzend, wallt die Musik von einem Zustand zum nächsten, vom fragenden Erzählton zur Anklage, von der Wehmut zur Raserei. Die hochexpressive Harmonik läßt im Verlauf des Werkes eindeutig tonale Momente dann durchscheinen, wenn die Emotionalität fahl wird, einen flehenden Ton annimmt: "Laß doch (…) mich noch nicht untergehn, gleich ausgebrannten Kerzen", und in einem anderen Licht am Ende, im Verklingen des Wortes "Friede" mit einem Fis-Dur-Dreiklang, in dem die Sexte ähnlich verharrt wie die None in Gustav Mahlers Lied von der Erde im Wort "ewig". Tatsächlich könnte dies eine Art "zitierter Gestus" sein. Die Tonsprache zwischen Atonalität und Tonalität befindet sich tendenziell in der Nähe zu derer Alban Bergs - nicht zuletzt auch wegen des Choralzitats, eine Technik, die an Bergs Violinkonzert erinnert. Vielleicht trägt das Stück deshalb auch den Untertitel "In memoriam Alban Berg" (dieser war etwa ein Jahr vor Entstehung dieser Kantate, am 24. 12. 1935 verstorben). Die Kantate wurde 1937 in Wien von der Emil Hertzka-Stiftung (u.a. mit Anton Webern in der Jury!) mit lobender Anerkennung bedacht und zur Aufführung empfohlen, jedoch war Hartmann aus politischen Gründen gezwungen, diese Kantate bis 1945 unter Verschluß zu halten, was, wie er sich in jenem eingangs erwähnten Briefwechsel von 1960 dem amerikanischen Verleger gegenüber äußert, dazu führte, daß er "ein wenig den überblick über das Stück" verloren habe und nicht mehr vollends dahinter stehen konnte. Er lehnte das Angebot des Verlegers ab, die Chorkantate im Rahmen einer Sammlung "Chormusik des 20. Jahrhunderts" zu veröffentlichen und beließ es bei einer in den 50er Jahren im Auftrag der Deutschen Grammophon Gesellschaft entstandenen reduzierten 3-sätzigen Fassung für Sopran-Solo und Klavier mit dem schlichten Titel "Lamento - Kantate nach Texten von A. Gryphius". Warum Hartmann sich von der Chorkantate so distanzierte, ist nicht ganz nachvollziehbar, da gerade die Chorpartien dem Werk jenen bildersprachlichen Impetus verleihen, welcher der auf eine Solostimme reduzierten Fassung - die ansonsten im wesentlichen der Originalkantate entstammt - freilich verloren geht. "Friede Anno 48" war und blieb Hartmanns einziges Chorwerk. Christine Böhm | |||||||||||||||||||||||||||||||||
Hartmanns Kantate: politisch-theologische ReflexionenKarl Amadeus Hartmann schreibt in einem Brief (1960): "Was mich anbetrifft, so habe ich im Jahre 1937 nach dem deutschen Barockdichter Andreas Gryphius eine Kantate für Chor 'Anno 48 - Friede' geschrieben, was mein einziges Chorwerk ist." Zu diesem Zeitpunkt ist diese Kantate noch nicht aufgeführt worden. "Ich bin mir nämlich nicht im klaren, soll sie aufgeführt sein oder nicht" (ebenda). Was der Anlaß für dieses Schwanken ist, wird in dem Brief nicht benannt. Daß Hartmann sich Mitte der 30er Jahre an die Vertonung von Texten von Andreas Gryphius macht, ist alles andere als zufällig. Dieser mit bedeutendste Vertreter der deutschen Barockliteratur bietet neben der Absicht aus Grimmelshausens "Simplicius Simplicissimus" eine Oper zu verfassen die Möglichkeit, die politischen Ereignisse ab 1933 auf der Folie des 30-jährigen Krieges kritisch als Musiker zu kommentieren, "nicht aus Verzweiflung und Angst vor jener Macht, sondern als Gegenaktion. Ich sagte mir, daß die Freiheit siegt, auch dann, wenn wir vernichtet werden". ("Kleine Schriften" 1965). Er erkennt schon 1933, daß aus der Idee der Gewaltherrschaft sich notwendigerweise ein Krieg, "das furchtbarste aller Verbrechen" entwickeln mußte. Diese Erkenntnis führt auch zu politischen Signalen von Hartmann wie jenen, daß er unwillig und schlampig seinen Ariernachweis erbringt, oder klarer, daß er sein Werk "Miserae" auf dem Prager IGNM-Fest 1935 den Opfern des Nazi-Terrors widmet: "Meinen Freunden, die hundertfach sterben mußten, die für die Ewigkeit schlafen, wir vergessen Euch nicht. Dachau 1933/34". Dieser musikalisch-politische Impuls hat natürlich für die musikalische Verarbeitung der Gryphius-Texte Konsequenzen. Die Texte bieten Hartmann die Möglichkeit, sowohl öffentlich seinen Zorn und seine Trauer über den politischen Zustand zu formulieren, wie auch privat den Tod seiner Mutter musikalisch zu verarbeiten. Übrigens hat auch Gryphius früh seine Mutter (wie auch seinen Vater, ein lutherischer Pfarrer) verloren. Andreas Gryphius (1616 -1664), von einer schweren Jugend mit schlimmen Kriegserfahrungen geprägt, hat neben weltlichen Werken eine umfangreiche geistliche Literatur hinterlassen, in der besonders die Sonette in ihrer unglaublich differenzierten und wortgewaltigen Gestaltung einen hohen Rang einnehmen. Ebenso hat er mittelalterliche lateinische Hymnen nachgedichtet, wie sie sich auch hier in dieser Textzusammenstellung finden lassen. Gryphius schildert mit allen Mitteln feinziselierter Sprachkunst, leidenschaftlich und kühl sezierend, die verheerenden Folgen des Krieges für das städtische und dörfliche Leben wie für die Seele und den Geist des Einzelnen. Der Zufluchtsort schlechthin ist der jenseitige Jesus Christus mit durchaus mütterlichen Zügen, der aber auch das Ende aller Zeiten herbeiführen soll. Indem die Welt als Jammertal, als sich selbst zerstörender Ort der Gottlosigkeit und Vergänglichkeit empfunden wird, wird Sicherheit und Geborgenheit nur in dem erhöhten Christus gewußt, vielleicht als Tribut an den beginnenden Säkularisierungsprozess beschwörend erhofft. Ganz andere Botschaften entfalten diese Texte, wenn sie von Hartmann 1937 bewußt gegen den politischen Kontext musikalisch verarbeitet werden. An drei Beispielen sei dies verdeutlicht: Peter Stimpel | |||||||||||||||||||||||||||||||||
Sieben Madrigale aus "Lagrime di San Pietro" von Orlando di LassoWie schon die Dichtung selbst, die Luigi Tansillo im Jahre 1568 nurmehr fragmentarisch hinterlassen konnte, ist der Zyklus zwanzig geistlicher Madrigale, basierend auf Tansillos Texten, auch Lassos letztes Werk, entstanden kurz vor seinem Tod im Jahre 1594. Das Sujet selbst erfreute sich in der Spätrenaissance in bildender Kunst und Literatur großer Beliebtheit: So malte Dürer die "Weinende Madonna" und Torquato Tasso beschrieb die "Lagrime di Maria Vergini", Angelo Grillo dichtete seine "Lagrime del penitente", und Erasmo da Valvasone die "Lagrime della Maddalena". In Luigi Tansillos Dichtung aber fällt gegenüber der üblichen eloquenten Gewandtheit des Sprachstils der Spätrenaissance eine gewisse Monotonie in Wortwahl und Sprachduktus auf, die jedoch um so mehr die stark manirierten Metaphern des Leidens Petri angesichts seines Versagens hervorzuheben vermag. Dies mag Lasso in erster Linie inspiriert haben, weswegen er aus dem Fragment gerade jene bilder-sprachlichen und weniger die erzählenden Teile zur Vertonung entnahm. Wenngleich Lasso die Madrigalkunst bereits zehn Jahre zuvor mit seinen Fiamma-Vertonungen zu ihrem Zenit geführt hat, so darf dieser mit größerem Abstand hierzu entstandene Zyklus durchaus als ungewöhnliches Alterswerk verstanden werden. Ungewöhnlich schon die Stimmenzahl, à 7, gewiss auch symbolischer Bedeutung. Mit dieser hohen Stimmenzahl beabsichtigte Lasso ein Klangbild, das an die Klangpracht der venezianischen Mehrchörigkeit erinnert, wobei deren Effekt jedoch hier nicht, wie üblich, auf räumlichen Wechseln homogener Farben, sondern vielmehr auf schroffer Gegenüberstellung des hohen und tiefen Registers, sowie der ständig wechselnden Klangdichte beruht. Andererseits scheint es sein Bestreben gewesen zu sein, die Wesenszüge des Madrigals mit dem ruhigen, fließenden Klangbild früherer Sakralmotetten zu verbinden. So verzichtet er weitgehend auf das Opulente und Affektierte des madrigalesken Stils, bringt jedoch dessen ausdruckstarke Rhetorik im Detail und mitunter eher im Verborgenen zur Entfaltung. Nur auf einige solcher Details sei hier hingewiesen: Schon im ersten Abschnitt des ersten Stückes erscheinen im Wechsel der Akkorde auf engstem Raum alle elf Töne des im vorzeichenlosen Genus naturale üblicherweise gebrauchten Tonvorrates (c-cis-d-e-f-fis-g-gis-a-b-h), - wie wenn damit die gesamte Tragweite des Versagens des vormals doch so "hochsinnigen Petrus" zum Ausdruck gebracht werden wollte. Erreicht wird dies nicht zuletzt durch die rasche Gegenüber-stellung einer quintfälligen Klausel E-A (mit dem Leitton gis) bei mille spade und einer sogleich darauffolgenden phrygischen Klausel g-A (mit dem Leitton b). Hierdurch wird schon eine gewisse Spannung zwischen den tritonusentfernten Tönen E und B (als Terz im g-Moll der phrygischen Klausel nach A) angedeutet und noch verstärkt, wenn wenig später das B auch Grundtonträger wird bei morir alato. Durch diese Einfärbung des Textes vermag Lasso wiederum die von Tansillo intendierten bildlichen Verknüpfungen des Leides Jesu (Schwerter und Lanzen gehören zu seiner Passion) mit dem inneren Leid des Petrus darzustellen. Die Spannungen tritonusentfernter Akkorde bestimmen außerdem die harmonischen Farbwechsel im gesamten Werk. Bemerkenswert ist auch der Wechsel des musikalischen Genus in textlichem Zusammenhang: Sind die ersten vier Madrigale, die eher das tatsächliche Geschehen beschreiben, im vorzeichenlosen Genus naturale gehalten, stehen die nachfolgenden drei, welche in metaphorischer Sprache den Blick Jesu nach dem Hahnenschrei einzufangen versuchen, im quinttieferen Genus molle, in dem nun der hier sytemeigene Es-Dur-Dreiklang als der farblich dunkelste Durdreiklang vermehrt intoniert wird. Um so bemerkenswerter ist aber das Aufscheinen dieses Akkordes im dritten Stück im Genus naturale, in welchem Es-Dur eigentlich systemfremd ist. Dort markiert er in tiefster Registerlage die Worte del suo gran fallo (seine große Sünde). Die "Sünde" erfährt ihre musikalische Darstellung desweiteren in chromatischen Querständigkeiten, wie z.B. im ersten Stück bei del proprio fallo, wo h-Moll und F-Dur nebeneinander stehen - solche Chromatismen jedoch benutzt Lasso hier enorm sparsam: Sie zeichnen jeweils ein Detail, keine Gesamtstimmung! Ein hervorstechendes Detail ist auch die Stelle des Hahnenschreies selbst im dritten Satz: Sie wird eingeleitet durch eine schroffe Verbindung zweier Terz-Quintklänge in ihrer engsten Lage - die dabei entstehenden Quintparallelen sind im dreistimmigen Satz zwar durch Stimmkreuzung nicht sichtbar und so auch nur latent hörbar, jedoch wurden die beiden Akkorde wohl mit Bedacht hier so unverstellt nebeneinander gesetzt. Dem folgt ein konsequent abwärts geführter Fauxbourdon - eine solche Parallelführung von Sextakkorden - hundert Jahre zuvor ein Ideal des Wohlklanges - gilt zu dieser Zeit als Symbol äußerster Tragik und Ausweglosigkeit. Im vierten Stück, das inhaltlich mit dem Blick Jesu nach dem Hahnenschrei daran anknüpft, zeigt sich Lassos Gespür für die vokale Disposition in der Siebenstimmigkeit: im Satz "Ecco che quel ch'io dissi, egli è pur vero amico" disse al discepol fiero ("Siehe da, meine Worte...") hebt Lasso das mehrfach wiederholte Wort amico durch ein Anschwellen des Chorklanges zum Tutti hervor - um ihn danach um so mehr auszudünnen - ein Sinnbild des Entsetzens, im Moment, da Petrus diese Worte vernimmt. Bemerkenswert auch im siebten Madrigal schließlich jene Stelle, in der es heißt "Piu fieri" parea dir... ("Noch wilder", schien sein Wort), das klanglich fast zartfühlend klagende Dissonanzen eingeführt werden, die zunächst quintfällige Klauselschlüsse vermuten lassen, allerdings in einem Quintanstieg aufgelöst werden ( die harmonische Progression dieser Stelle heißt B - F - C - G - d), wodurch die harmonische Gewohnheit massiv unterlaufen wird. Wo der Text es intendiert, flicht Lasso dichte Imitationsfelder in den Satz ein, bei denen die Sogetti mitunter in geringstmöglichem Abstand einander ablösen, und die Metrik kurzzeitig aus den Angeln heben, und nicht selten scheint die Harmonik in solchen Momenten festgefroren - ein Verfahren, das wiederum an ältere Imitations-techniken erinnert, wie Lasso sie beispielsweise in seinen frühen Bicinien studierte, worin sich für uns aber auch Anknüpfungspunkte an Josquin aufzeigen lassen. - Er habe, so sagt er selbst, die Sätze "hauptsächlich zur eigenen Besinnung komponiert" (per mia particolare devozione). Der großen Detailtreue, mit der Lasso in schon fast mystischer Schau sich dem Bilde des weinenden Petrus hingab, entsprang so aber eine Komposition, die auch als eine Art Synthese seiner individuellen in verschiedenen Gattungen erworbenen kompositorischen Kunst verstanden werden kann. Christine Böhm | |||||||||||||||||||||||||||||||||
Zwölf Anmerkungen zu einem Konzert in einem fast aufgegebenen Raum1 Ruinen erlauben die unmittelbare Wahrnehmung des historischen Wandels, sind Vergegenwärtigungen des Transitorischen. Die Spannung zwischen vanitas und Arkadien [1] macht ihre Aura - in Walter Benjamins Verständnis die "einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag" [2] - aus. 2 Industrieruinen und -relikte bedeuten eine Verschärfung der Wahrnehmung des historischen Wandels, weil es vergehende Zeugnisse eines anhaltenden und lebensbestimmenden Prozesses sind: Maschinen, Rohrleitungen, Meßinstrumente im Anschlag bei Null oder beim Maximum, stehengebliebene Werksuhren, funktionslose Schalter und Regler, Sichtgläser für Wasser- und Ölstände, letzte Geruchsreste von heißgelaufenem Metall, heißen Lacken, Kohlenstaub, überheißem Dampf, kalten, ranzig gewordenen Schmierfetten und -ölen, überhitztem Staub … 3 Die Maschine in ihrer Funktion ist unnahbar - "In der Tat ist Unnahbarkeit eine Hauptqualität des Kultbildes" [3] (um hier wieder Walter Benjamins Ausführungen aufzunehmen) - erst nach ihrer Abschaltung ist Nähe möglich. Das Maschinenrelikt bezieht aus dieser Spannung seine Aura. 4 Die stillgelegten Maschinen sind Agenturen der Zeitwahrnehmung: Plötzliche Veränderungen (Abschaltung, Abbau, Verschrottung) und ganz langsame (Rost, Korrosion) kommen zusammen. Die Korrosion im stillgelegten Kraftwerk bekommt Zeit, die Maschine muß nicht mehr gewartet werden, der Verfall nicht mehr im Moment seines Beginns unterbrochen werden, die Korrosion kann zu einer Art von Naturphänomen werden. 5 Unsere Fremdheit gegenüber der aufgelassenen Kraftwerksanlage wird deutlich in einem fragmentarischen Wörterbuch, dessen alphabetische Anlage der technischen Funktionslosigkeit entspricht: [4] 6 Vor-Bilder phantastischer Räume in der Literatur und in der bildenden Kunst lassen uns die entfunktionalisierten Räume der Industrie als Kunstgebilde sehen. Sie holen in ihrer Realität die künstlichen phantastischen Räume ein, die zur Zeit ihrer Hochkonjunktur oder schon viel früher nur fiktional vorhanden waren.
7 Der Verlust von technischer Funktion und ökonomischem Kontext bedeutet die Möglichkeit ästhetischer Aneignung, die Möglichkeit der Konstruktion neuer Bedeutungen. Aleida Assmann [6] spricht in solchen Zusammenhängen von "schleichender ästhetisierung von Gegenständen im Museum" und von einer entsprechenden "schleichenden Auratisierung der Relikte an Erinnerungsorten". Die Entfunktionalisierung bedeutetet die Reduzierung auf die äußere Form und die Erinnerung an die Funktion, sie ist aber auch, das sollte nicht unterschlagen werden, Anästhetisierung, Abtötung der Wahrnehmung, Derealisierung [7] - in unserem Fall der ökonomischen Prozesse, der sozialen Verhältnisse, der Arbeitswelt. 8 Zur Funktionslosigkeit der Maschinen gehört die Stille, das Ende des "ewigen Lärms" [8] der Fabriken, der die Arbeiter schwerhörig machte und den die Schriftsteller seit der Mitte des 19. Jahrhunderts den Gebildeten im Roman drastisch als "sinnbetäubenden Lärm" und metaphorisch als "Höllenlärm" [9] vermittelten. Der "sinnbetäubende Lärm" beim Vernieten im Inneren eines Kessels läßt dem Ich-Erzähler in Spielhagens Roman "Hammer und Amboß" [10] das Blut aus Mund und Nase strömen: "Aber die Drei mit den Hämmern lachten nur, und der eine, der Vorschmied, sagte: ein ander Mal sperr das Maul auf, ‹…›". 9 Musik in verlassener Industriearchitektur ist seit einiger Zeit en vogue: "‹…› das Ruhrgebiet erlebt seit ein paar Jahren die Besetzung ausgedienter Stätten der Industrie durch die Musik". [11] 10 Für Eberhard Kloke [12] "sind die Hallen mehr als nur neue Hüllen, nämlich
Spannungsfelder, Reibungsflächen und Verfremdungsorte, die die Musik aus eingefahrenen Rezeptionsmustern befreien und ihr neue Wahrnehmungstüren aufstoßen können." Für Andreas Rossmann [13] "stellt sich" im Zusammenhang mit dem Projekt von Kloke dagegen "verschärft die Frage: Wird sich die Musik behaupten können?" 11 Mit der Kunst in aufgelassene Maschinenhallen zu gehen, ist auch die Pervertierung des Weges der Künstler und der Kunst zu den Arbeitern, in die Werkshallen. Den selten gelungenen Versuchen, die elitären Positionen der Kunst zu verlassen, folgt nun in eben diesen Werkshallen eine neue elitäre Veranstaltung. 12 Die industrielle Idylle von halbabgebauten, halbverschrotteten konventionellen Kraftwerken gewinnt, so meine ich, ihr auratisches Potential auch aus dem Wissen, daß die Demontage von Atomkraftwerken ein weitgehend ungelöstes Problem darstellt. Die Reaktordruckbehälter oder die Dampferzeuger "können ‹…› nicht wie Teile von Kohlekraftwerken ‹…› verschrottet werden, weil im Kernbereich solcher Anlagen noch Jahre und Jahrzehnte nach dem Abschalten das atomare Feuer unausweichlich nachflackert ‹…›". [14] Es ist von "Stillegungsstufen, die sich bis 100 Jahre ausdehnen können" [15] die Rede. Der Gegensatz zwischen der Verschrottung eines konventionellen Kraftwerks und eines Atomkraftwerks wird deutlich, wenn man liest, daß sich die jährlichen Kosten für die Stillegung und dem "gesicherten Einschluß" der Ruine zum Beispiel des AKW Niederaichbach auf ca. 1,5 Milllionen DM beliefen, daß der Abbau des AKW mit 280 Millionen Mark teurer als der ursprüngliche Bau (232 Millionen DM) war. [16]
Siegfried Schödel |